Heranwachsende und Pornografie – 5 Fragen an Christine Hofstätter vom Institut für Sexualpädagogik

Interview

Kinder und Jugendliche stoßen im Internet leicht auf erotische und pornografische Inhalte, manche suchen auch gezielt danach. Doch die wenigsten sprechen darüber. Warum ist ein offener Dialog über dieses vermeintliche Tabu-Thema so wichtig? Wir haben die Sexualpädagogin Christine Hofstätter befragt.

Grafik für das Format „5 Fragen - 5 Antworten“
Foto: Christine Hofstätter/Grafik: SCHAU HIN!

Bei der Nutzung digitaler Medien können Kinder ungewollt mit pornografischen Inhalten konfrontiert werden. Wie erklären Eltern jüngeren Kindern „Pornografie“?

Sexuelle Aufklärung löst im Allgemeinen mehr Unbehagen aus als viele andere Themen. Sie macht den Kontakt mit den eigenen Schamgefühlen unmittelbar spürbar, auch wegen der möglichen Gefahr durch einen drohenden Tabubruch. Diese Schamgefühle sind ein wesentlicher Teil der nonverbalen Botschaft, welche in einem Gespräch mit Kindern transportiert werden oder dafür sorgen, dass Kinder erst gar keine Fragen zu sexuellen Themen stellen. Wie innerhalb einer Familie mit Sexualität umgegangen wird, ist sehr unterschiedlich – es gibt keine allgemeingültige Formulierung, um Pornografie zu erklären. Um sich die eigene Scham bewusst zu machen, kann aber ein Testgespräch mit den PartnerInnen helfen, die geeignete Wortwahl zu finden und gemeinsam zu reflektieren, was die gewünschten Inhalte sind, wie sie optimal zu formulieren sind und wie sie ankommen könnten. Gesprächsinhalte treffen bei Kindern auf ihre bisherigen Erfahrungen im Kontext ihrer sexuellen Entwicklung. Wenn Kinder einen offenen Umgang mit Körperlichkeit, Gefühlen und eine Sprache über Sexualität erleben, wird es ihnen dadurch ermöglicht, die eigenen Wahrnehmungen ernst zu nehmen und die eigenen Grenzen einzufordern. In Bezug auf Pornografie empfiehlt Nicola Döring Informationen über realistische sexuelle Szenarien, um diese von Schauspiel unterschieden zu können. Wissen über mögliche Inszenierungen hilft, diese einordnen zu können – genauso wie Wissen über die gespürten Reaktionen; Denn wenn Kinder etwa körperliche Erregung wahrnehmen, während sie gleichzeitig aber Ekel empfinden, kann es u.a. zu Schuldgefühlen und starken Irritationen kommen, welche ein orientierungsgebendes Gespräch mit Erwachsenen benötigen.

 

Viele Jugendliche sind neugierig, suchen selbst nach Pornografie oder kommen auf dem Schulhof oder bei FreundInnen damit in Berührung. Warum ist Pornografie nicht zur Sexualaufklärung für Jugendliche geeignet?

Wer das Internet nutzt, „stolpert” unweigerlich über pornografische Inhalte. Die allgemeine Debatte bezüglich Pornografienutzung durch Jugendliche basiert häufig auf der Annahme, dass Gesehenes nachgeahmt werden könnte. Das verstärkt die Sorge, dass Jugendliche unrealistische sexuelle Verhaltensweisen bzw. Erwartungen annehmen könnten. Nach der ersten Konfrontation mit diesen Inhalten ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass Jugendliche aktiv nach Inhalten suchen, welche ihren sexuellen Vorlieben durch Erregungsreaktionen entsprechen. Pornografie wird aber nicht nur zur eigenen Erregungssuche und Masturbation genutzt, sondern auch im Gruppensetting. In diesem werden bewusst schockierende, anekelnde oder belustigende Inhalte gewählt. Hier geht es tendenziell um eine Demonstration von „sexuellem Kompetenzgefühl“ und Mutproben unter den Gleichaltrigen. Dabei wird auch die Auseinandersetzung mit den fremden, tabuisierten und verborgenen Aspekten des Sexuellen gesucht. Pornos können der Beantwortung der leitenden Frage dienen: „Begehre ich normal? Bin ich normal?“. 

Neben der sexualstrafrechtlichen Barriere herrscht wissenschaftlicher Konsens darüber, dass pornografische Inhalte für die psychosexuelle Entwicklung Jugendlicher bedenklich sein können, auch wenn wir diese Frage heute noch nicht sicher und in angemessenem Umfang beantworten können.  Jedoch wird wahrgenommen, dass Jugendliche einzelne Botschaften sexueller Szenen auf eine Weise verarbeiten, welche u.a. von den sexuellen und nichtsexuellen Erfahrungen im Kontext mit dem eigenen Körper, Beziehungen, Geschlecht und Bedürfnissen abhängt. Reale Erfahrungen mit dem eigenen Körper prägen sich tiefer ein als medial vermittelte. Manchen Jugendlichen fehlt jedoch oft die Möglichkeit, sich den eigenen Körper anzueignen. Sie profitieren daher von der Verfügbarkeit von Erfahrungsräumen, um ausloten zu können, welche Nähe sie erlauben und genießen wollen, wie die eigenen Bedürfnisse zu artikulieren sind und dass es erlaubt ist, sie zu haben.

Neben dem Austausch mit Eltern, LehrerInnen und FreundInnen nutzen Jugendliche aufgrund ihres zunehmenden sexuellen Interesses Pornografie als einen Teil ihrer Sexualaufklärung. Der größere Teil findet über die familiäre Sozialisation, schulischen Aufklärungsunterreicht sowie Online-Plattformen wie bspw. YouTube statt. Pornografie bleibt dabei allerdings das einzige Medium, welches die Frage nach konkreter, gezeigter und bewegter Sexualität beantwortet. 

 

Wie können Eltern einen Rahmen schaffen, in dem ihre Teenager sich über ihre Erfahrungen und Fragen zum Thema Sexualität mit Vertrauenspersonen austauschen können?

Um von Jugendlichen in Sachen Sexualität als GesprächspartnerIn aufgesucht zu werden, ist neben dem familiären Umgang mit Sexualität auch die alltägliche Verfügbarkeit entscheidend. Vertrauen basiert auf Erfahrung. Jugendliche nehmen den individuellen Umgang der Erwachsenen mit Gefühlen und Ängsten wahr. Gestellte Fragen können auf Wertschätzung treffen oder Scham kreieren – eventuell sogar bei den aufgesuchten Erwachsenen. Jugendliche leiten daraus ab, inwiefern ihre eigenen Grenzen und ihr Wunsch nach Intimitätsschutz respektiert werden und wie stark sie sich von ihren Eltern abgrenzen dürfen.

Auch wenn Sexualität heute allgegenwärtig ist oder scheint, so ist es das Sprechen darüber noch lange nicht. Doch worüber nicht gesprochen wird, kann sich als Verbot oder Tabu niederschlagen. Ist ein solches erst etabliert, wird es zur kaum überwindbaren Hürde und macht es Jugendlichen nahezu unmöglich, sexuelle Themen anzusprechen. Eine offene Dialogkultur löst dieses Problem – sowohl im Allgemeinen, als auch bezüglich sexueller Themen. Wird Sexualität oder Pornografie jedoch nur Thema, wenn es um Risikovermeidung und potenzielle Gefahren geht, stellt das implizit die Zulässigkeit eines lustvollen und interessierten Blickes auf (die eigene) Sexualität in Frage. Die Entwicklung von Pornografiekompetenz und verantwortlicher Pornografienutzung profitiert von offenen Gesprächsräumen, in welchen interessiert Fragen gestellt werden können und Angebote bezüglich informativer Internetplattformen, Büchern oder Blogs existieren.

Gleichwohl brauchen Eltern ein Wissen über Pornographie und so empfiehlt Silja Mathiessen: Erwachsene sollten zunächst einmal selbst gucken. Das unterstützt Eltern auch dabei, möglichst einseitige Positionen im Gespräch zu vermeiden. Eltern können Jugendlichen stärkende Erfahrungen ermöglichen, die zum Fundament sexueller Aufklärung und zum Grundgerüst für kompetente Pornografienutzung werden können. Dadurch werden potenzielle negative Einflüsse durch Pornografie wie etwa Leistungsdruck in Bezug auf eine gelingende sexuelle „Performance" oder Verunsicherung des Körperselbstbildes entschärft.

 

Wie kann Pornografie das Medienverhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflussen?

Neben der Wirkungsfrage von Pornografie auf den Menschen stellt die Medienwirkungsforschung die Frage: Was machen Menschen mit Pornografie? In der medialen Darstellung wird die Wirkung von Pornografie bis hin zu Computerspielen häufig im Sinne einer eindimensionalen Beeinflussung dargestellt. Die Realität ist jedoch komplexer. Einerseits werden die Wirkungsbereiche differenziert, wie etwa nach Aspekten des Verhaltens, des Wissens und der Einstellung. Gleichzeitig zeigt einschlägige Forschung laut dem Kommunikations- und Medienwissenschaftler Heinz Bonfadelli, dass direkte, persönliche Gespräche unsere Meinungen, Einstellungen und unser Handeln viel eher als die Rezeption von Medieninhalten beeinflussen. 

Haben Jugendliche eine Medienkompetenz entwickelt, können diese in ihrem Interesse nutzen und Nutzungszeiten selbstständig regulieren, so wird der Konsum von Pornografie ihre Medienkompetenz kaum grundlegend verändern. Leben Kinder und Jugendliche emotional und sozial vernachlässigt, fehlen GesprächspartnerInnen, um über bspw. beschämende Erlebnisse im Kontext ihrer Sexualentwicklung zu sprechen, so treffen mediale Angebote auf eine andere Bedürfnisstruktur. Im Zuge seiner Auswertung von Studien zu Pornografie beschreibt Alexander Korte, dass Lebensumstände und Persönlichkeitsfaktoren den Konsum von Pornografie fördern können, welcher wiederrum bestimmte Persönlichkeitsfaktoren potenzieren kann.

 

Studien zeigen, dass Jungen häufiger, früher und mehr pornografische Inhalte konsumieren als Mädchen. Woran liegt das?

Die Auseinandersetzung mit Jugendsexualität konfrontiert uns auch mit Genderstereotypen. Diese vermitteln eine vermeintliche Sicherheit bezüglich geschlechternormativem Verhalten. Laut dieser tradierten Meinung sind Männer sexuell aktiv/erobernd und Frauen sexuell passiv/verführend. Eine Studie besagt, dass Jungen Pornografie eher erregend erleben, Mädchen hingegen als uninteressant bis eklig.

Für die Bewertung und Wahrnehmung von Pornografie spielen neben dem Geschlecht jedoch unterschiedliche Punkte eine Rolle – etwa die bisherigen sexuellen Erfahrungen, die Einstellungen zur Masturbation, das Frauen- und Männerbild, das Erleben des Geschlechterverhältnisses oder die bisherigen Liebesbeziehungen, so Silja Matthiesen, Forschungsleiterin für empirische Sexualwissenschaft. Vergleicht man die Frequenz von Masturbation und PartnerInnensexualität im Jugendalter zwischen den Geschlechtern, so zeigt sich, dass Masturbation für nahezu hundert Prozent der Jungen die erste sexuelle Aktivität ist. Dagegen masturbiert nur ein Viertel der Mädchen vor ihrer ersten partnerschaftlichen Sexualität.

Weibliche Sexualität scheint in diesem Alter mehr auf den Beziehungskontext und auf emotionale Verbundenheit bezogen zu sein. Pornografie ist jedoch durch das Gegenteil definiert: Dort ist die Beziehungslosigkeit vorherrschend.

Auch stark tradierte Rollenbilder und Erziehungshaltungen können das potenzielle Lustempfinden und die Lustwahrnehmung von Mädchen beeinflussen. Mädchen wird häufig vermittelt, sich weder anfassen noch (ihr Lustempfinden) entdecken zu dürfen. Aber nicht nur im Jugendalter wird weibliche Potenz und Sexualität noch immer zwischen den Extremvorstellungen „Heilige” und „Hure” verhandelt; Diese Zuspitzung definiert auch weiterhin den gesellschaftlichen Diskurs. Zudem bildet ein Großteil an Pornografie Sexualität aus männlicher Perspektive ab. Feministische Pornografie ist bemüht, weibliches Begehren sichtbar(er) zu machen, ist den meisten Jugendlichen jedoch unbekannt. Soll Sexualität auf Augenhöhe sichtbar werden, muss weibliches Begehren sichtbar und normalisiert werden, um auch die Bedürfnisse der weiblichen Sexualität abzubilden und zugänglich zu machen.

Metaphorisch gesprochen: Menschen lernen ihren Körper kennen, indem sie ihn spüren. So wird dieser versteh- und erfahrbar. Verglichen mit dem Erlernen eines Musikinstruments ist vor allem der Anfang schwierig – man muss lernen, wie es funktioniert. Nach und nach kann jedoch das Spiel ausgebaut und genossen werden, und letztlich auch als Teil eines Orchesters mit anderen zu musizieren.

Christine Hofstätter ist freiberufliche Sexualpädagogin und Dozentin am Institut für Sexualpädagogik, Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die pädagogische und beratende Begleitung der sexuellen Entwicklung vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter und die Integration des Körpers in die sexuelle Bildungsarbeit.