Interview: Regeln finden zwischen Helikoptereltern und Handysucht

News

Thomas Feibel ist Medienexperte und leitete das Büro für Kindermedien in Berlin. Er hat bereits mehrere Bücher zu Themen wie Cybermobbing und Aufwachsen in der Digitalen Welt verfasst, veranstaltet Workshops zur Mediennutzung und arbeitet als Journalist. In seinem neuen Werk „Jetzt pack doch mal das Handy weg!“ (Ullstein; 9,99 Euro) erklärt er, wie Eltern mit dem Medienkonsum ihrer Kinder umgehen - und welche Fehler sie selbst viel zu oft begehen. SCHAU HIN! sprach mit ihm.

Ein Vater und sein Sohn schauen gespannt auf ihre zwei Smartphones
goodluz/Fotolia

SCHAU HIN!: Wie hat die Arbeit am Buch begonnen?

Thomas Feibel: Im Vorfeld des Buches habe ich zunächst viele Eltern, Lehrer und Schüler befragt, was sie genau von einem Buch mit dem Titel „Jetzt pack doch mal das Handy weg“ erwarten würden. Das Problem brennt ja vielen Eltern und Pädagogen unter den Nägeln. Dabei war es mir neben dem Ratgeberteil mit Regeln und Lösungswegen besonders wichtig, den Bogen zu einer zeitgemäßen Medienerziehung zu schlagen. Denn unsere Erziehungsaufgabe ist viel größer als es allein auf das Problem zu beschränken, wie wir unsere Kinder dazu bekommen, das Gerät aus der Hand zu legen. Denn beim Smartphone kommen alle Probleme des Internets hinzu: Auch Kinder werden schon mit Themen wie Abzocke, Hate-Speech, Cybermobbing, Fake-News oder dem Ausspioniert werden konfrontiert. Dafür müssen wir sie stark machen. Deshalb habe ich mit Psychologen, Hirnforschern, Kinderärzten, Schuldirektoren, Big Data-Experten und sogar mit Philosophen gesprochen.

SH: Aber es sind auch persönliche Erlebnisse verarbeitet?

TF: Das bleibt ja nicht aus. Ich selbst benutze ein Smartphone und bin nicht frei von Fehlern. Das Buch war ein guter Anlass, mein eigenes Smartphone-Verhalten auf den Prüfstand zu stellen. Deshalb beginnt auch jedes Kapitel mit persönlichen Anekdoten von meiner Familie und mir. Darin kann sich jeder Leser selbst wiedererkennen, oder sich ertappt fühlen, wenn es um bestimmte Verhaltensweisen geht, die nicht immer ideal sind. Das Buch funktioniert in zwei Richtungen: Kinder und Eltern. Denn es gibt wahnsinnig viele Eltern, die davon genervt sind, dass ihre Kinder ständig auf ihr Smartphone starren. Aber es gibt genauso viele Kinder, die von ihren Eltern genervt sind, weil die den Blick von ihrem Smartphone nicht abwenden können.

SH: Was ist wichtig, wenn Kinder mit Smartphones aufwachsen?

TF: Ich finde es wichtig, dass Kinder früh Selbstregulation lernen. Dazu gehört, dass sie vor dem Besitz eines Geräts einen Medienführerschein machen. Wichtig ist auch, mit den Kindern gemeinsam Regeln zu erstellen und einen Mediennutzungsvertrag, wie er im Internet-ABC angeboten wird, gut sichtbar an den Kühlschrank zu pinnen. Damit Kinder nicht nur spielen oder WhatsApp nutzen, sollten aber auch die richtigen Apps kennen, mit denen sie Gestalten können. Heute fertigen bereits Drittklässler ein eigenes E-Book oder einen Fotoroman mit Apps an, komponieren Musik oder programmieren. Je früher sie das Gestalten lernen, desto eher erkennen sie das Smartphone als ein nützliches Werkzeug.

Heute fertigen bereits Drittklässler ein eigenes E-Book oder einen Fotoroman mit Apps an, komponieren Musik oder programmieren.

SH: Also lade ich meinem Kind zum Beispiel eine Bildbearbeitungs-App, damit es weiß, wie so etwas funktioniert?

TF: Und so eine gesunde Skepsis entwickelt gegenüber Dingen, die es im Internet sieht? Ja. Mir hat mal ein Professor erzählt, dass er seinen Studenten immer erstmal beibringt, wie man ein Bild fälscht. Wer einmal ein Bild fälsche, der glaube keinem Bild im Internet mehr. Das ist ein wichtiger Aspekt. Denn sobald ich einen eigenen Film gedreht habe, fange ich an, Filme anders zu sehen. Ähnlich ist es mit dem Programmieren – wenn Kinder das mal ausprobieren, betrachten sie viele Apps und Programme mit anderen Augen. Sie lernen hinter das Konstrukt zu schauen.

SH: Das öffnet auch Horizonte, oder?

TF: Ja. Wir Erwachsenen müssen es ihnen aber zeigen. Wissen Sie, früher spielten alle Kinder „Ballerspiele", weil sie oft sehr niedrigschwellig sind und sie nichts anderes kannten. Dabei gibt es sehr niveauvolle Games. Sobald wir Kinder erst einmal mit Qualität „vergiften“, steigt ihr Anspruch. Beim Smartphone kann das zu einer guten Selbstregulation führen. Wenn ein Kind etwas Sinnvolles macht, etwas Eigenes gestaltet und erschafft, hat es keine Lust seine Zeit mit 700 unnötigen WhatsApp-Nachrichten totzuschlagen.

SH: Der Begriff der Mediensucht ist umstritten, wie schätzen Sie das Thema ein?

TF: Ich habe auch mit vielen Suchtexperten gesprochen. Manche sehen ein problematisches Verhalten nur als Phase, andere betrachten den Umgang als enorm bedenklich und gefährlich. Sucht ist aber, wenn jemand am Alltag nicht mehr teilnimmt. Morgens nicht aufsteht, nicht zur Schule geht, nicht mit der Familie isst und enorm aggressiv wird, wenn er oder sie drauf angesprochen werden. Dann braucht man psychologische Hilfe. Aber nicht jeder übermäßige und missbräuchliche Konsum ist gleich Sucht. Dennoch haben Eltern ein Recht, sich Sorgen zu machen und wenn sich für Sie als Eltern etwas wie Sucht anfühlt, dann müssen sie etwas unternehmen. Wir dürfen das Sucht-Problem nicht unterschätzen, wir dürfen es aber auch nicht erhöhen.

SH: Habe ich auch etwas von dem Buch, wenn ich gar keine Kinder habe?

TF: Es ist nicht nur ein reiner Elternratgeber, viele Erwachsene nutzen es auch, weil sie von ihrem eigenen unkontrollierten Verhalten genervt sind und nach probaten Mitteln wie etwa Detox-Ideen suchen, damit sie das Smartphone im Griff haben und nicht das Smartphone sie. Mir geht’s ja genauso. Ich bin selbst ständig auf der Suche nach der Balance, weil mir zuweilen mein eigener Umgang mit dem Smartphone auf die Nerven geht. Darum habe ich vor zwei Jahren ein Experiment begonnen und auf einem neuen Smartphone keine Mails eingerichtet. Ich wollte wissen, wie lange ich das durchhalte. Inzwischen habe ich wieder ein neues Smartphone – und immer noch keine Mails drauf. Das geht. Einfach warten, bis man wieder an seinem Schreibtisch oder Laptop ist. Sowas lernt man.

SH: Aber WhatsApp benutzen Sie trotzdem? Wo ist da der Gewinn?

TF: Wenn ich WhatsApp nutze, ist das was Privates. Ich kommuniziere mit Freunden und Familie. Mails sind aber meist beruflich und nötigen mir oft Entscheidungen ab. Ich muss dann handeln. Viele kennen das ja aus dem Urlaub, wenn sie das erste Mal nach ein paar Tagen in ihre Mails schauen, damit nichts anbrennt. Dann geht so ein Ruck durch den Körper und man ist wieder voll im Hamsterrad. Das wollte ich nicht mehr. Darum bleibt mein Smartphone mailfrei.

SH: Gewinnt man Zeit mit Verzicht?

TF: Das Paradoxe am Smartphone ist ja, dass es uns so viel Zeit spart und wir gleichzeitig immer weniger Zeit für uns oder die Familie haben. Wo ist denn bitte diese ersparte Zeit? Wann genießen wir denn diese gewonnene Zeit? Diese Balance zu finden ist eine große Herausforderung und ein langer Prozess. Schließlich gibt es ja Smartphones erst seit zehn Jahren. Aber wir merken langsam, dass wir bestimmte Dinge ändern müssen, um nicht am Rad zu drehen.

Das Paradoxe am Smartphone ist ja, dass es uns so viel Zeit spart und wir gleichzeitig immer weniger Zeit für uns oder die Familie haben.

SH: Was sind die wichtigen Regeln Ihres Buches?

TF: Es gibt verschiedene Regeln. Einige sind für Eltern. Die amerikanische Soziologin Sherry Turkle zum Beispiel empfiehlt: Lieber mit dem Kind eine Dreiviertelstunde ohne Smartphone auf den Spielplatz gehen anstatt drei Stunden mit. Oder bitte kein Smartphone im Kindergarten. Von Erzieherinnen höre ich immer wieder, dass Eltern am Telefon hängen, anstatt zu hören, was sie oder die Kinder ihnen vom Tag erzählen wollen. Außerdem müssen wir Erwachsenen stärker den Beruf von der Freizeit entkoppeln. Klar kann ich abends um elf Uhr noch meinem Chef antworten. Nur rächt sich diese Selbstausbeutung irgendwann.

SH: Das sind Elternregeln. Welche gelten für Kinder? Oder alle?

TF: Für den Familienfrieden gibt es ein schönes Beispiel: Eine Familie hat mir von ihrem Körbchen erzählt, in das alle ihr Smartphone legen müssen, sobald sie nach Hause kommen. Erst wenn in Ruhe gegessen wurde und alles erledigt ist, darf es sich jeder wieder holen. Auch bei den Hausaufgaben hat das Smartphone nichts zu suchen. Wenn es etwas nachzuschlagen gibt, hilft auch der Computer weiter. Aber eben ohne WhatsApp. Grundsätzlich sollten Kinder ihr Smartphone nicht über Nacht im Zimmer haben, um zur Ruhe zu kommen. Es kommt dann immer die Weckerausrede. Aber: Kaufen Sie einen Wecker. Trifft natürlich auch auf Erwachsene zu.

Grundsätzlich sollten Kinder ihr Smartphone nicht über Nacht im Zimmer haben, um zur Ruhe zu kommen. Es kommt dann immer die Weckerausrede. Aber: Kaufen Sie einen Wecker.

SH: Warum eigentlich?

TF: Das hat Sherry Turkle ebenfalls gesagt: Ein Smartphone, das vollkommen ausgeschaltet auf dem Tisch liegt, lenkt so sehr ab, dass alle Anwesenden weniger tief in Gespräche einsteigen, als wenn es nicht dort läge. Kinder müssen einfach zur Ruhe kommen. Eltern aber auch. Bei Jugendlichen kommt hinzu, dass sich die klasseninternen Gruppen über Nacht mal schnell mit 500 neuen Nachrichten füllen, die gelesen und beantwortet werden wollen…

SH: Was empfehlen Sie LehrerInnen?

TF: Schule ist ein Ort, der verschiedene Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen vermittelt. Und das Internet und das Smartphone sind ebenfalls eine Kulturtechnik, die erlernt werden muss. Andererseits ist die Schule der letzte Ort, an dem Kinder noch „off“ sind. Das ist ein Dilemma. Interessanterweise hat mir ein Schuldirektor im Interview erzählt, wie er das löst: Das Smartphone ist im Unterricht erlaubt, um zu recherchieren – also geregelt. In den Pausen hingegen bleibt es verboten. Seitdem spielen die Schüler wieder im Hof. Das kann ein guter Ansatz sein. Unbestritten ist, dass Schulen sich mit diesem Thema auseinandersetzen müssen. Blinde Verbote bringen uns nicht weiter.

SH: Ihr Fazit in Sachen Medienkompetenz und Kinder?

TF: Regeln und die Fähigkeit der Selbstregulation. Fehler dürfen passieren, damit Kinder aus ihnen lernen können. Wenn wir immer nur alles voraushelikoptern, haben sie keine Chance, eigene Erfahrungen mit Erkenntnisgewinn zu machen. Wir reden hier von Fehlern auf dem Smartphone. Und nicht vom dritten Weltkrieg. Da müssen wir auch in der Erziehung aufmerksam sein, aber entspannt bleiben. Ohne Alarm lässt es sich besser erziehen.