Interview mit Psychologin Catarina Katzer: "Wir brauchen mehr digitale Empathie"

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Wie können Eltern und Lehrer Betroffenen von Cybermobbing helfen? Im Interview rät Psychologin Catarina Katzer, auf die Betroffenen zuzugehen und Jugendliche in die Prävention einzubeziehen.

Ein Junge sitzt an einem Ufer und blickt auf das Wasser.
Bonnie Kittle/Unsplash

SCHAU HIN!: Fast jeder sechste 15-jährige Schüler regelmäßig Opfer von Mobbing – überrascht Sie diese Zahl?

Catarina Katzer: Nein. Sie scheint mir eher zu niedrig. Zahlreiche andere aktuelle Studien zeigen deutlich höhere Zahlen, gerade bezüglich Cybermobbing. Laut JIM-Studie 2020 kennen mehr als 38 Prozent der 12-18 Jährigen jemanden, der Opfer von Cybermobbing wurde. Eine Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen zeigt, dass jeder zweite Neuntklässler von Cybermobbing betroffen ist.

SH: Wie hängen klassisches Mobbing und Cybermobbing zusammen?

CK: Schaut man genauer hin, zeigt sich, dass die überwiegende Mehrheit Opfer in der Schule und Opfer im Netz ist. Dabei kann Mobbing in der Schule anfangen und dann Online weitergehen. Allerdings gibt es auch den umgekehrten Weg. Gerade die digitale Selbstdarstellung oder das bedenkenlose Posten von privaten und intimen Details kann zum Anlass genommen werden, jemanden fertig zu machen. Wir müssen also klar den Zusammenhang zwischen „Real Life“ und virtuellem Raum sehen.

Wir müssen den Zusammenhang zwischen „Real Life“ und virtuellem Raum sehen.

SH: Welche neue Qualität hat Cybermobbing gegenüber „klassischem“ Mobbing auf dem Schulhof?

CK: Cybermobbing ist kinderleicht und von überall möglich: mit einem Klick sind Fotos oder Videos gemacht, Facebookprofile frei erfunden bzw. gefaked oder Hass-Gruppen über WhatsApp gebildet. Die Täter entfernen sich somit auch psychologisch immer mehr von ihren Opfern. Das physische Nicht-Miterleben-Können der Opfer-Reaktionen verringert unsere Fähigkeit, „digitale Empathie“ zu empfinden. Man nimmt sich nicht unbedingt als Täter wahr, auch moralisches Empfinden tritt schneller in den Hintergrund. Gleichzeitig verändert sich die Opfersituation von Hass, Hetze oder Cybermobbing dramatisch – die „Viktimisierung“, also sich zum Opfer-Machen, ist quasi endlos, denn nichts kann aus dem Netz wirklich entfernt werden. Gleichzeitig ist der Opferstatus extrem öffentlich, dies lässt die Traumatisierungsgefahr ansteigen.

SH: Warum fällt es schwer, etwas dagegen zu unternehmen?

CK: Ein Problem ist, dass viele Eltern, Lehrer und Freunde erst einmal gar nicht mitbekommen, was passiert. Über Mobbing oder Cybermobbing spricht niemand gerne. Die Opfer nicht, weil sie sich schämen. Die Mitläufer oder Beobachter nicht, weil sie Angst haben, dass sie selbst zu Opfern werden können. Oft haben Jugendliche Angst mit ihren Eltern zu sprechen, weil sie befürchten, dass ihnen der Zugang zum Internet verboten werden könnte. Oder dass sie nicht verstanden werden. Bei Freunden spielen oft Scham oder die Angst, dass ihnen selbst die Schuld gegeben wird, eine große Rolle. Diese Spirale müssen wir aufbrechen.

Über Mobbing oder Cybermobbing spricht niemand gerne.

SH: Was bedeutet das für LehrerInnen, Eltern und MitschülerInnen konkret?

CK: Wir sollten vor allem auf Veränderungen bei Kindern oder Freunden achten: Sacken Leistungen plötzlich ab? Ist jemand plötzlich verschlossen? All das können Anzeichen für eine Notsituation sein. Dann ist es erst einmal wichtig zu signalisieren, ich bin für dich da und höre zu. Wenn wir anderen ein Gefühl von Vertrauen vermitteln, ist viel gewonnen. Auch Elternnetzwerke an Schulen können hilfreich sein, sich darüber auszutauschen, und unter Umständen gemeinsam Regeln oder Notfallpläne aufzustellen.

SH: Wie kann man auf Betroffene zugehen?

CK: Man sollte herausfinden, was der Betroffene möchte. Auch mal direkt fragen: „Wie willst du mit der Situation umgehen?“ Beratungsportale wie die Peer-Beratung www.juuuport.de oder www.save-me-online.de können helfen. Wichtig ist auch, die Beweise zu sammeln. Die Täter müssen zur Rechenschaft gezogen werden. Aber diese nicht vorführen: das kann im Zweifelsfall die Situation für das Opfer schlimmer machen. Wenn möglich, ist es ratsam, die Eltern der Täterseite mit ins Boot zu holen, sich mit ihnen auszutauschen. Einen Workshop gemeinsam mit der Polizei oder externen Experten in der betreffenden Klasse durchzuführen, kann ebenfalls sinnvoll sein.

Auch Elternnetzwerke an Schulen können hilfreich sein, sich darüber auszutauschen, und unter Umständen gemeinsam Regeln oder Notfallpläne aufzustellen.

SH: Wie erreicht man eine gemeinsame Haltung gegen Cybermobbing in der Schule? Was bräuchten Schulen dafür?

CK: An Schulen trifft man häufig auf Unsicherheiten, wie sie die digitale Welt in den Unterricht bringen. Konzepte fehlen, beziehungsweise werden den Lehrern nicht vermittelt. Gleichzeitig brauchen wir neue Schulstrukturen und Cyber-Beratungsteams, die andere ausbilden und selbst ansprechbar sind. Wichtig dabei sind neue, kreative Präventionskonzepte für Grundschulen und Kitas. In der Vergangenheit konzentrierten wir uns zu sehr auf Jugendliche und weiterführende Schulen. Neue Konzepte aus Australien bevorzugen eine „student voice“: Jugendliche selbst sollen gefördert und gefordert werden, Prävention aktiv mitzugestalten und einen Gesamtplan zu entwickeln. Gerade die Kompetenz von den jüngsten Schülern muss geschult werden. Dazu gehören digitale Empathie, digitaler Stress oder das Abschätzen von Risiken.

 

Dr. Catarina Katzer ist Vorstandsmitglied des Vereins "Bündnis gegen Cybermobbing" und ist in der Enquete Kommission "Internet und digitale Gesellschaft" des Deutschen Bundestages. Ihr neues Buch "Cyberpsychologie - Leben im Netz: Wie das Internet uns ver@ndert" ist im dtv-Verlag erhältlich.