„Durch Repräsentation wird Vielfalt sichtbar“ – 5 Fragen an Stefanie Fichter bei ABqueer e.V.

Interview

Soziale Netzwerke können das Zugehörigkeitsgefühl von Heranwachsenden fördern, in Filmen und Serien finden sie Held_innen, die sie sich zum Vorbild nehmen. Wie beeinflusst das die Entwicklung der eigenen Identität von Kindern und Jugendlichen? Warum es so wichtig ist, innerhalb und außerhalb von Medien mehr Sichtbarkeit für Vielfalt zu schaffen und Informationen jenseits von Klischees zu verbreiten, erklärt uns die Erziehungswissenschaftlerin und Projektleitung bei ABqueer e.V. Stefanie Fichter im Interview...

Grafik mit Portrait von Stefanie Fichter und ihrem Beruf "Erziehungswissenschaftlerin und Projektleitung bei ABQueer e.V."g
Grafik: SCHAU HIN!; Bild: Mika Wisskirchen

Der Verein ABqueer beschäftigt sich mit den Themen Geschlecht und Sexualität, mit einem Schwerpunkt auf lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans-, intergeschlechtlichen und queeren (lgbtiq) Lebensweisen. Was sind die Ziele des Vereins?

Wir arbeiten seit 2004 zu den Themen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt und bieten vor allem Beratung und Bildungsveranstaltungen in Schulen an. Sowohl für (angehende) Lehrkräfte und als auch für Schüler_innen. Unser Hauptziel ist es also, Schule zu einem sichereren Ort und Lernraum zu machen.
Wenn wir davon ausgehen, dass mindestens zehn Prozent der Bevölkerung queer leben, dann heißt das ja auch, dass an jeder Schule, in jedem Klassenzimmer und in jedem Lehrkräftekollegium lesbische, schwule, bisexuelle, trans* und/oder inter* Menschen sind, für die es sich lohnt, eine diskriminierungsärmere Umgebung zu schaffen („inter*“ bezeichnet, dass die angeborenen Geschlechtsmerkmale von der medizinisch vorgesehenen zweigeschlechtlichen Norm abweichen). Aber auch für heterosexuelle und/oder cis-geschlechtliche Kinder und Jugendliche ist es wichtig, dass ein starres Bild von Geschlecht nicht ihren Alltag bestimmt, sondern hinterfragt wird („cis“ beschreibt Menschen, die sich ihrem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht zugehörig fühlen). Das Thema Geschlecht begegnet uns schließlich überall und ständig und eckt man erstmal an, wird deutlich, an wie vielen Stellen plötzlich Barrieren auftauchen. Dies betrifft vor allem queere Jugendliche in vielen Bereichen aber auch immer noch das cisgeschlechtliche Mädchen, das gerne Fußball spielt oder den cisgeschlechtlichen Jungen, der auch mal Lust auf ein rosafarbenes T-Shirt hat. Wir erhoffen uns von unserer Arbeit natürlich auch, dass sie sich über die Schule hinausträgt und zu einer offeneren Gesellschaft, mehr Akzeptanz für Vielfalt und weniger Diskriminierung beiträgt.

 

Das Internet bietet eine Vielfalt an Themen und Communities. Inwiefern sehen Sie die digitale Welt als Chance für Jugendliche, um sich über lgbtiq-Themen auszutauschen und sich zu vernetzen?

Das Internet ist vor allem in den letzten Jahren zu einem bunten Strauß an wunderbaren Eindrücken geworden und für Jugendliche zu einem selbstverständlichen Teil ihrer Interaktion und Informationsbeschaffung. Es gibt die Möglichkeit, sich sehr einfach zu informieren, eine Community zu finden und sich sogar international auszutauschen. Für viele lgbtiq-Jugendliche ist dies zu Beginn oft der niedrigschwelligste Kanal. Und im Internet ist es außerdem möglich, sich Gehör zu verschaffen. Vor allem für Jugendliche, die keine Anlaufstellen in ihrer Nähe haben oder sich nicht trauen, mit anderen über die Themen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt zu sprechen, kann das Internet eine gute Möglichkeit bieten, sich anonym zu informieren und sich erstmal unerkannt zu vernetzen. Genauso voll das Internet von qualitativ guten Angeboten ist, so gefährlich kann es manchmal auch sein. Nicht alle Suchbegriffe landen immer auf Seiten mit passenden Informationen. Hier gehört eine gute Portion Medienkompetenz dazu.

 

Inwiefern sind Identifikationsmöglichkeiten in den Medien wichtig für Heranwachsende?

Mangelnde Vorbilder sind selbst 2021 immer noch ein großes Problem für queere Jugendliche. In den letzten Jahren ist es durch das Internet möglich geworden, viele Geschichten von den verschiedensten Menschen an den verschiedensten Orten zu sehen und zu verfolgen. Das ist sehr inspirierend. Dennoch ist es in den Medien auch häufig so, dass überwiegend prominente Personen auch eine prominente Plattform bekommen oder Personen, deren Geschichte besonders dramatisch oder besonders stereotyp verlaufen ist. Was meines Erachtens den Jugendlichen heute immer noch oft fehlt, sind greifbare Vorbilder aus ihrem Umfeld, wie geoutete Lehrkräfte, Nachbar_innen, Gruppenleitungen, etc. Also Personen, die im gleichen Umfeld der Jugendlichen einen Vorbildcharakter haben. Dennoch muss heute, im Vergleich noch zu der eher jüngeren Vergangenheit, keine junge Person mit Internetzugang mehr von sich selbst denken, sie sei die einzige queere Person auf der ganzen Welt. Das ist bereits ein wunderbarer Fortschritt. 

 

Wie könnten Medienangebote dazu beitragen, beim Aufwachsen das Bewusstsein für Lebensweisen stärken, die über Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit hinaus gehen?

Gute Medienangebote haben das Potenzial, das Bewusstsein für eine Vielfalt jenseits der Heteronorm zu schaffen. Durch Repräsentation wird Vielfalt sichtbar. Um ein Bewusstsein zu schaffen und für Jugendliche auch Möglichkeiten aufzuzeigen, ist es wichtig, ein vielfältiges mediales Bild zu bieten und nicht in die Klischeekiste zu greifen. Die Personen, die gezeigt werden, in ihrer Komplexität darzustellen und mit Respekt zu behandeln. Nicht nur über Personen zu sprechen, die von der Heteronorm abweichen, sondern sie selbst zu Wort kommen zu lassen.
Außerdem ist es wichtig, dass es sichere Plattformen für Jugendliche gibt, um sich auszutauschen und zu informieren. Dort müssen ihre Privatsphäre und der Kinder- und Jugendschutz gewahrt werden und dafür gesorgt werden, dass den partizipierenden Jugendlichen deutlich wird, welche Tragweite und welches „Gedächtnis“ das Internet hat. Solche Angebote gibt es bereits und erfreuen sich hohem Interesse.

 

In den sozialen Netzwerken kann mit einem Klick eine große Reichweite erzielt werden  Ist das ihre Erfahrung, dass Kinder und Jugendliche diese Plattformen auch für Coming-Outs nutzen?

Wir unterscheiden grundsätzlich ein inneres Coming-Out, also eine eigene Bewusstwerdung über die sexuelle Orientierung und/oder Geschlechtsidentität und ein äußeres Coming-Out, das Mitteilen dieser Orientierung und/oder Identität nach außen. Vor allem das äußere Coming-Out wird häufig als etwas dargestellt, was man einmal tut und dann ist es vorbei. In der Realität gibt es aber unzählige davon und das unter Umständen jeden Tag. Ein mediales Outing ist natürlich eine Möglichkeit, eine sehr große Öffentlichkeit auf einen Schlag zu erreichen und gegebenenfalls dies auch in einer Gruppe oder unter einem gemeinsamen Hashtag tun zu können.
Gerade auf der Plattform TikTok aber auch auf anderen Social Media Plattformen gibt es viele Coming-Out-Videos von queeren Jugendlichen, die sich bei ihrer Familie oder bei FreundInnen outen. Diese kommen zumeist aus einem US-amerikanischen Raum und werden bestimmt auch im deutschsprachigen Raum von Jugendlichen gerne gesehen und vielleicht auch bald nachgeahmt. Bislang blieb ein vergleichbarer Hype aus. Was wir allerdings dennoch beobachten sind Jugendliche, die in sozialen Medien über ihre Outings und ihr Leben sprechen. Sie nutzen die Plattform für gegenseitige Unterstützung in Coming-Outs oder Transitionsprozessen oder als politische Plattform mit großer Reichweite. Diese Geschichten erzählen die Jugendlichen meines Erachtens zum Empowerment von sich und anderen, um politisch Einfluss zu nehmen und um ein vielschichtiges Bild von sich als queerer Person zu zeigen.

ABqueer e.V. ist ein Berliner Verein, der Bildungsveranstaltungen und pädagogische Beratung zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt mit den Schwerpunkten lgbtiq-Lebensweisen anbietet.